Das Mäuschen

Das Mäuschen

(2004)

Ein Mädchen, das man „Mäuschen“ rief
(Miranda war die lange Form),
war glänzend schön, doch sehr naiv
und kannte Goethe nicht und Storm.

Oft stand sie fünf Uhr morgens auf
und schminkte sich bis kurz vor acht;
dann wurde noch ein Großeinkauf
für Mode und Make-Up gemacht.

Am Nachmittag, ab fünfzehn Uhr,
verdiente sie sich schließlich Geld
in einer kleinen Agentur
als Fotomodel hingestellt.

Man sah in Zeitschriften (meist groß)
Mirandas Körper und Gesicht.
Gewesen wär sie arbeitslos,
gäb’s den Beruf des Models nicht.

Um zehn Uhr abends ging sie dann
in irgendeine Diskothek,
vergnügte sich mit jedem Mann,
der kreuzte ihren Lebensweg.

Zu denen, die ins Auge stachen,
gehörte jene hübsche Maus.
Sie kannte sich in Körpersprachen
weit besser als im Deutschen aus.

Sie hatte ziemlich viele Meisen,
war dumm, verpeilt und ziemlich toll;
das konnte man auch leicht beweisen:
Die BILD war ihr zu anspruchsvoll.

An einem Maitag kam der Jochen
vorbei an Mäuschens Gartentor.
Mehr Muskeln hatte er als Knochen
und rief: „Ich habe heut nichts vor!“

Miranda trat auf den Balkon
und sprach entzückt: „Mein Held! Mein Hengst!
Oh, warte kurz, ich komme schon!
Ich eile schneller als du denkst!“

Da machte Jochen einen Scherz:
„Wozu der lange Treppenlauf?
Spring vom Balkon, mein Schokoherz!
Ich fange dich auch gerne auf!“

Mirandas Körper war perfekt,
doch sie verstand nicht Ironie.
Ihr fehlte halt der Intellekt.
So sprang in ihren Tode sie.