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Der Mythos von Europa

Der Mythos von Europa

(2017)

Europa war ein Königskind,
auf das man sich noch heut besinnt,
weil’s Teil von jener Story ist,
die man auf unserm Kontinent
als dessen Gründungsmythos kennt,
wobei man allzu oft vergisst,

was im Detail geschah. Man weiß:
Es gab den Göttervater Zeus,
der hatte offenbar entschieden,
als Stier Europa aufzuspüren
und dieses Mädchen zu verführen.
Doch hat der Volksmund gern vermieden,

den Mythos richtig zu erzählen,
sodass gewisse Teile fehlen,
die sonst vermutlich unschön klängen.
Laut Urtext, dem die Ehr gebührt,
hat Zeus Europa nicht verführt –
es war wohl eher ein Bedrängen:

Europa war nicht vorgewarnt
und wurd von Zeus (als Stier getarnt)
an einen fernen Ort verfrachtet.
Da half ihr auch kein „Nein heißt nein“ –
sie wurde nicht einmal zum Schein
als selbstbestimmte Frau geachtet.

Zeus hatte nur sich selbst im Blick
und ließ Europa bald zurück –
nicht ohne sie zuvor zu schwängern.
Sie plante sich ins Meer zu stürzen,
um so ihr Leben abzukürzen,
anstatt ihr Leiden zu verlängern.

Doch als sie auf der Klippe stand,
erschien im leuchtenden Gewand
die schöne Göttin Aphrodite.
Die sagte nur: „Was soll der Quatsch?
Gleich macht es Platsch und du bist Matsch.
Hör erst mal an, was ich dir biete:

Sieh in der Ferne all das Land –
das wird schon bald nach dir benannt,
verzichtest du darauf, zu springen.“
Europa fühlte sich benutzt,
doch war sie einfach zu verdutzt,
um sich letztendlich umzubringen.

So klingt der Mythos frei von Lack.
Es bleibt ein fader Beigeschmack,
denn ohne Tod durch einen Sprung
basiert im Schein des Happy Ends
die Gründung dieses Kontinents
auf einer Vergewaltigung.