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Ein Höhlengleichnis

Ein Höhlengleichnis

(2008)

Sokrates:
Versuch Dir bitte einmal auszumalen,
was ich im Folgenden beschreiben werde:
Ein Pulk von Menschen sitzt in einer kahlen
und dunklen Höhle auf der harten Erde.
Sie sind gefesselt und bewegungslos
und starren unentwegt geradeaus,
ihr Drang sich zu bewegen ist nicht groß
und niemand fragt: „Wo geht es hier hinaus?“
Und hinter diesen ganzen Menschen steht –
mit einer dicken Rolle Film bespannt –
ein Apparat, durch einen Stein erhöht,
und wirft bewegte Bilder an die Wand.

Glaukon:
Recht seltsam scheint mir das und wunderlich,
fast sagte ich: Mich ängstigt dieser Ort.

Sokrates:
Das kann ich gut verstehn, drum setze ich
nun die Erläuterung zur Höhle fort:
Die Menschen tragen rosarote Brillen,
durch welche sie an Wänden Filme sehen
und diese Unterhaltung stoppt den Willen,
den Blick zu wenden oder aufzustehen.
Sie amüsieren sich auch gar nicht schlecht
und mögen vieles, was die da betrachten.
Man fragt sich: Halten sie den Film für echt
und würden jedes Bild für wahr erachten?

Glaukon:
Oh Sokrates, das lässt sich sicher sagen:
Natürlich halten sie den Film für wahr.

Sokrates:
Und sollte es dann doch mal jemand wagen,
auf Risiko und eigene Gefahr
die rosarote Brille abzunehmen
und sich womöglich auch noch umzudrehen –
stünd dieser Mensch dann wirklich vor Problemen,
würd er den Apparat samt Filmen sehen?

Glaukon:
Er wäre – positiv gesagt – erstaunt,
doch treffender ist hier das Wort „geschockt“.

Sokrates:
So bleibt der Mensch vermutlich missgelaunt,
wenn er noch länger in der Höhle hockt,
da er inzwischen ja verstanden hat,
dass er hier drinnen vor der Wahrheit flieht
und – wie die ander’n Menschen auch – anstatt
der Wahrheit nichts als bloße Bilder sieht.
Er will in dieser Höhle nicht verwesen;
entschlossen kann er bald sich überwinden,
die Beine von den Fesseln loszulösen,
die ihn so stark an diese Höhle binden.
Doch hofft er, dass sich all der Aufwand lohnt,
denn er hat große Schmerzen zu ertragen.

Glaukon:
Wohl wahr. Er ist Bewegung nicht gewohnt.

Sokrates:
Er zwingt sich aber selbst, nicht laut zu klagen,
und er erreicht mit Mühe irgendwann
den Höhlenausgang, wo er Sonnenlicht
zunächst nur unter Schmerzen sehen kann;
die neue Helligkeit erträgt er nicht.
Doch eine Zeitlang später sieht er klar,
was die Natur hier draußen präsentiert:
Er nimmt Vergiftung und Zerstörung wahr,
wodurch er rasch die Freude dran verliert.
Zwar tun ihm seine Beine nicht mehr weh,
doch ist sein Bauch mit Ärger angefüllt;
er kommt an einen ölverschmutzten See
und er erkennt darin sein Spiegelbild.
Bei diesem Anblick fasst er neu Vertrauen,
sieht ein: er hat sich viel zu oft gesträubt,
der Wahrheit einfach ins Gesicht zu schauen,
und hat sich in der Höhle bloß betäubt.
Hier draußen wartet eine große Welt,
die jede Menge Energie versprüht,
die Leben schenkt und die den Geist erhellt,
sobald sich endlich wer um sie bemüht.
Und schließlich fängt er an zu überlegen:
Wie ließe die Verödung sich verhüten?
Denn würde man hier draußen alles pflegen,
so wär’s an Schönheit kaum zu überbieten –
ein menschenwürdiges und hübsches Land.
Was glaubst Du? Bleibt der Mensch für immer da,
hat er am Höhlenausgang das erkannt?

Glaukon:
Oh Sokrates, ich würde sagen: Ja.

Sokrates:
Nicht ganz. Es juckt ihn bald zurückzugehen,
er will den andern zu verstehen geben:
„Ihr solltet euer Spiegelbild mal sehen!
Ihr dürft nicht ewig in der Höhle leben!
Die Wahrheit aus den Augen zu verlieren
ist ignorant, verachtenswert und dumm!“
Wie werden dann die andern reagieren?
Was meinst Du, Glaukon? Bringen sie ihn um?