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Vom lyrischen Ich

Vom lyrischen Ich

(2023)

Die Kunst ist als solche nur dort existent,
wo jemand die Kunst auch als solche erkennt.
Und weil das so ist, muss es Künstlern gelingen,
ihr Publikum notfalls zur Einsicht zu zwingen,
dass ein Werk – sei es Darbietung, Wort oder Bild –
in betrachtenden Augen als „künstlerisch“ gilt.

Nun lässt sich fast alles zur Kunstform erheben,
man muss nur entsprechende Hinweise geben,
um dem Publikum unmissverständlich zu zeigen:
Das hier ist Kunst – und ihr dürft euch verneigen!

Um dies zu erreichen, genügt es bisweilen,
man gießt seine Texte in Verse statt Zeilen;
und bist du ein schreibender Künstler, so sprich
aus Worten nie selbst – lass ein lyrisches Ich
wie von fern aus gekünstelt-fantastischen Sphären
die Welt und sein eigenes Wesen erklären.
Mit dem lyrischen Ich wirft sich so das reale
Ich wie ein Maskenball-Tänzer in Schale,
wobei diese Schau nur mit Mühe verdeckt,
was hinter der lyrischen Ich-Maske steckt.

Doch gibt sich ein Künstler nur ungern die Blöße
zu sagen: Die Maske hat Feigenblattgröße.
Stattdessen behauptet sein Ich permanent:
Sobald man reales und lyrisches trennt,
entsteht in Gesängen, Gedichten und Oden
ganz automatisch ein doppelter Boden.

Auf diesem Konstrukt können Künstler in Zeiten
des eigenen Ruhms wie auf Schleimspuren gleiten.
Oder gleiten sie eher dahin wie auf Eis?
Erspar’n wir uns doppelte Boden-Details!

Wer Eis, das so dünn ist, dass dieses leicht bricht,
als doppelten Boden bezeichnet, hat schlicht
ignoriert, dass das Wässrige unter der Schicht
aus Eis zwar sehr breit ist – doch fest ist es nicht.
Denn verwässerter Boden ist höchstens Morast –
und fehlt ihm Substanz, trägt er nicht einmal fast.

Aber was lässt sich jetzt für die Kunst daraus schließen?
Soll man vielleicht Alter Egos erschießen?
Wer Antworten sucht, fragt am besten nicht mich,
sondern, wenn überhaupt, nur mein Lyrisches Ich.