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Der Sonntagsspaziergang

Der Sonntagsspaziergang

(2004)

Herr Klein, ein großer Optimist,
traf sonntags beim Spazierengehen
den alten Nachbarn Friedrich List.
Es freute ihn das Wiedersehen.

Doch Friedrich List sah grimmig drein.
Der and’re fragte: „Geht’s dir gut?“
Die Antwort war ein klares „Nein,
mir fehlt seit kurzem Lebensmut.“

„Das wunderte mich. Was ist der Grund?“
so sprach Herr Klein. Er war erstaunt.
„Du warst doch immer kerngesund,
du wirktest froh und gut gelaunt.“

Der Nachbar schüttelte den Kopf
und sagte: „Das ist längst vorbei.
Ich bin ein armer alter Tropf
und bin auch nichts mehr schuldenfrei.“

„Das haut mich wirklich nicht von Hocker“,
gab Klein zurück. „Auch ich hab Schulden.
Ich seh das alles gerne locker,
denn vieles muss der Mensch erdulden.“

Da lachte Friedrich List gequält
und sagte leise: „Du bist dumm.
Hast du die Zinsen je gezählt?
Dein Schuldenberg bringt dich noch um!“

Herrn Klein, dem wurde plötzlich klar:
sein alter Nachbar hatte Recht,
dass hilflos seine Lage war;
es ging ihm finanziell sehr schlecht.

„Das Leben ist ein großes Spiel“,
fuhr List laut fort, „man wird geboren
und will, wie jeder Mensch, zum Ziel.
Wir beide haben schon verloren.“

Der andre seufzte mehrmals tief,
verabschiedete sich auch bald,
und als er dann nach Hause lief,
war ihm auf einmal ziemlich kalt.

Herr Klein ging mit gesenktem Blick
und einem Kopf voll schlimmer Dinge
nach Hause, nahm sich einen Strick
und formte eine große Schlinge.

Am nächsten Tag schnitt man ihn los,
als Leiche, die am Seile hing.
Warum erhängte er sich bloß?
Weil sonntags er spazieren ging?

Anmerkung:
Auch Nachbarn werden schnell zu Mördern,
wenn Sie den Pessimismus fördern.