Die Elster

Die Elster

(2012)

Mitternacht umgab mich düster,
machte mich im Kopf noch wüster
als ich mich seit Tagen fühlte –
aufgewühlt und dennoch leer.
Deshalb wollt’ ich Ruhe haben;
plötzlich hörte ich ein Schaben
wie vom Schnabel eines Raben
von der Eingangstüre her.
„Sicher niemand, den ich kenne“,
dachte ich, „nur irgendwer.
Ich erwarte keinen mehr.“

Ach, ich fühlte mich so kläglich,
denn ich grübelte unsäglich:
Was ist lebenslang erträglich
und was macht das Dasein schwer?
All mein Denken, mein Empfinden
wollt’ ich en detail ergründen,
um den Lebenssinn zu finden.
Doch so lange und so sehr
ich mein Großhirn auch bemühte,
schien mein Kopf mir schrecklich leer
und ich dacht, jetzt käm nichts mehr.

Was war das? Es klopfte wieder!
Langsam streckte ich die Glieder,
um zur Wohnungstür zu gehen.
Ich erhob mich matt und schwer
und bewegte mich zur Türe,
hoffend, dass ich dort erführe,
wer mich bei der Nacht-Lektüre
meines Großhirns bittesehr
so entschieden stören wollte.
Aber draußen war es leer,
vor der Tür stand niemand mehr.

Ich begann mich umzuschauen,
wollte meinen Ohren trauen,
die das Klopfen vorhin hörten.
Drang es nicht von draußen her?
Hatte ich es falsch vernommen
und nur Winde mitbekommen,
fragte ich mich ganz beklommen –
draußen blieb es still und leer.

Ich verriegelte die Türe,
wünschte, dass das alles wär
und es käme niemand mehr.
Drinnen wollte ich mich setzen –
da vernahm ich mit Entsetzen,
dass das Klopfen wiederkehrte.
Dort vom Fenster kam es her!
Etwas schabte leis und pickte,
pochte, klopfte, kratzte, tickte,
was sich nachts gewiss nicht schickte.
Darum fragte ich mich, wer
diesen Lärm erzeugen mochte
und was war wohl sein Begehr?
Weiter wusste ich nicht mehr.

Als ich, ohne dies zu wissen,
dann das Fenster aufgerissen,
war ich selber höchst verwundert,
denn von draußen flog nun quer
eine Elster durch das Zimmer,
schwarz und weiß, mit blauem Schimmer.
So was trifft man ja nicht immer –
wo kam dieses Wesen her?
Höflich fragte ich den Vogel:
„Sag, wie heißt du, bittesehr?“
Drauf die Elster: „Immer mehr!“

„Dich“, entfuhr’s mir voll Entzücken,
„wird gewiss der Himmel schicken,
um mich endlich zu erleichtern,
dass ich nicht mehr wie bisher
jede Nacht ins Leere stiere
und bis morgens früh sinniere,
wie ich bloß mein Leben führe,
leitet sich das Ziel nicht her.
Elster, eine Frage hätt ich:
Brauch ich Ruhm und große Ehr?“
Sprach der Vogel: „Immer mehr!“

Das, was diese Elster krächzte,
war, wonach ich täglich lechzte:
eine Antwort für das Leben!
Es beschäftigte mich sehr.
Somit wollte ich es wagen,
meine ganzen Daseinsfragen
an das Tier heranzutragen,
schienen sie auch noch so schwer.
„Sag, wie viel sollt’ ich mir nehmen
von dem Gut, das ich begehr?“
Drauf die Elster: „Immer mehr!“

Wieder klang der Satz entschieden,
daher war ich höchst zufrieden
mit dem Auftritt jenes Vogels,
der mich musterte und der
sitzen blieb und sich nicht trollte,
als ich von ihm wissen wollte,
wo man Urlaub machen sollte.
„Sag, empfiehlst Du Küsten-Flair
oder aber hohe Berge,
wo ich nur sehr ungern wär?“
Sprach die Elster: „Immer Meer!“

Weiter stellte ich die Fragen,
die mir so am Herzen lagen:
„Sag, was braucht zu seinem Glücke
bittesehr ein Milliardär?
Will ich gut und sinnvoll leben
und mich nicht so schnell ergeben –
sag, was sollte ich erstreben?
Und wie viel Verzehr ist fair?
Oder gar aus Fitnessgründen:
Was empfiehlst Du beim Dessert?“
Sprach die Elster: „Immer mehr!“

Heut bekenn’ ich völlig offen:
Seit ich dieses Tier getroffen,
geht’s mir mit dem Leben besser,
denn ich nehm es kaum noch schwer.
Früher hin und her gerissen,
muss ich Luxus heut’ nicht missen,
denn ein nerviges Gewissen
plagt mich auch nicht mehr seither.
Will ich hören, was ich brauche,
fühle ich mich manchmal leer,
spricht die Elster: „Immer mehr!“