Publikumskunde

Publikumskunde

(2008)

Nicht jedes Publikum geht mit,
wie es der Künstler sich verspricht,
denn wer die Bühne neu betritt,
der kennt zunächst die Wirkung nicht.

Ob Zittern, Zögern oder Stammeln,
so leicht ist gar nichts abzuschätzen.
Erfahrungen sind erst zu sammeln,
im Anschluss müssen sie sich setzen.

Weil dies die Sache stark erschwert,
und viele diesen Schritt nicht wagen,
ist’s ab und zu empfehlenswert,
bei Bühnenprofis nachzufragen,

die nicht vor Publikum erröten;
die Auftritt und Privates trennen;
die selbstbewusst vor Leute treten
und längst die eigne Wirkung kennen.

Zu jenen großen Profis zählte
schon immer Markus Wetter-Brandt,
der seine Wirkung nie verfehlte,
sobald er auf der Bühne stand.

Er strahlte jede Menge aus
und fand im ganzen Land Gefallen,
bekam frenetischen Applaus
in ausverkauften deutschen Hallen.

Wo man auf Wetter-Brandt auch stieß:
Erfolge schien er stets zu buchen,
weshalb ich’s mir nicht nehmen ließ,
ihn eines Tages aufzusuchen.

Da fragte ich ihn sehr direkt:
„Es würd mich brennend int’ressieren:
Was macht dein Charisma perfekt?
Wie lange muss man das studieren?

Mit welchen geistigen Ergüssen
erreicht man was? Mit welchen Themen?
Und brauch ich jede Menge Wissen,
um Leute derart einzunehmen?“

Die Reaktion von Wetter-Brandt
war, wissend mit dem Kopf zu schütteln.
„Mir sind die Fragen wohlbekannt,
ich würd das Ganze so vermitteln:

Die Masse kannst du bloß verführen,
triffst du den meistgewünschten Ton,
beherrschst des Publikums Allüren
und pflegst die Manipulation.

Du musst nichts Großes präsentieren,
die Masse will es möglichst seicht,
um nicht den Anschluss zu verlieren.
Erkenne, dass der Durchschnitt reicht.

Beschränke die Zusammenhänge,
den roten Faden halte dünn,
zieh keine Handlung in die Länge,
man fragt dich eh nicht nach dem Sinn.

Den Inhalt musst du portionieren,
denn gut verdaulich sei’n die Worte.
Bedenke immer beim Servieren:
Sie wollen Kekse, keine Torte.

Versuche alles zu vermeiden,
was neu ist und vor Frische strotzt.
Das Publikum kann’s besser leiden,
wird Durchgekautes ausgekotzt.

Denn Unbekanntes ist verpönt
und jede Masse hat Probleme,
bis sie an Neues sich gewöhnt.
Viel lieber ist ihr das Bequeme.“

Er sprach es ernst und hasserfüllt.
Verachtung lag in jedem Wort.
Es klang an keiner Stelle mild,
so fuhr er ohne Zögern fort:

„Bevor dir Publikum begegnet,
begreife, wie es fühlt und tickt:
Der Mensch ist mit Vernunft gesegnet,
im Rudel wird sie unterdrückt.

Du musst dich selber gehen lassen:
Begehre, dann wirst du begehrt.
Es lieben den die großen Massen,
der sich mit off’ner Hose näh’rt.

Im Innern sind sie alle Schweine,
egal, ob sie das auch gebärden.
Die Leute wollen nur das Eine:
Mit voller Wucht gevögelt werden!

Dem Publikum Respekt zu zollen,
verschwendet gute Energie.
Gib Massen, was die Massen wollen,
doch innerlich verachte sie.“

Mich schockte diese Bitterkeit.
Und, ohne lange nachzudenken,
ergriff ich die Gelegenheit,
in diese Worte einzulenken.

„Du redest dich ja grad in Fahrt“,
entfuhr es mir. „Du übertreibst.
Dein Urteil scheint mir viel zu hart,
wenn du das Publikum beschreibst.

Die Leute können reflektieren,
du darfst sie nicht für dumm verkaufen!
Ja, willst du ihre Gunst verlieren?
In welche Richtung soll das laufen?

Du stehst nicht automatisch drüber,
selbst wenn die andern unten sitzen!“
Er warf kurz ein: „Und ob, mein Lieber!
Die These lässt sich bestens stützen.“

Ich gab zurück: „Das Publikum,
das seinen Blick zur Bühne richtet,
sitzt deinetwegen dort herum
und du bist ihm zum Dank verpflichtet.

Ich nehm dir, was du sagst, nicht ab!
Es trifft nicht zu, ganz einfach weil …“
Ich stockte. Er bemerkte knapp:
„Na dann – beweis das Gegenteil.“