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Woher kommt das Gefühl (Kassel-Wilhelmshöhe)

Woher kommt das Gefühl (Kassel-Wilhelmshöhe)

(2023)

Woher kommt das Gefühl von verlorener Zeit,
diese Leere und die Furcht vor der Sinnlosigkeit?
Warum habe ich Angst, dass ich heute von hier
nicht mehr wegkomm und im Leben den Anschluss verlier?

Jetzt stehe ich hier, weil ich nicht anders kann.
Es fühlt sich nach stetigem Abwarten an.
Ich frag mich, wieso mich ein Frösteln befällt,
als wär es das Zittern vor dem Ende der Welt.

Doch ich hoffe: Irgendwann bin auch ich wieder froh,
und verdräng den Gedanken, was wär, wenn ich flöhe.
Denn gewiss geht’s auch andern am Bahnhof hier so
in Kassel-Wilhelmshöhe.

Der Weg bis zum Bahnsteig führt überdies
nie hoch, nur hinunter – fast wie ins Verlies.
Ich merk, wie ich mich beim Gedanken ertapp:
Von nun an geht’s immer nur weiter bergab.

Ich fühl mich gestrandet, nur ohne den Strand,
Betonwüste zieht sich über Boden und Wand.
Und ein paar graue Herren verschmelzen damit,
als wär das der einzige sinnvolle Schritt.

Dann erneut dieses Frösteln – doch das ist schnell erklärt:
die Kälte kommt bloß von der zugigen Böe,
die täglich die Menschen am Bahnsteig durchfährt
in Kassel-Wilhelmshöhe.

Ob Sommer, ob Winter – was macht das schon aus,
denn selbst bei sporadischer Variation
der Temperaturen, des Lärms und des Graus
bleibt’s die bahnhofsgewordene Herbstdepression.

Woher kommt das Gefühl von verlorener Zeit?
Warum seh ich kaum Wege aus der Hilflosigkeit?
Der Grund dafür ist wohl, wenn man Marx’ Worte nimmt,
dass das Sein das Bewusstsein auch am Bahnhof bestimmt.

Ich kann mich inzwischen ja kaum noch erinnern,
was ich hier mache, und so fall ich im Innern
in ein gähnendes Loch, das viel Ähnlichkeit hat
mit dem Bahnhofsprojekt einer schwäbischen Stadt.

Doch ob das hier Zwischen- oder Endstation ist,
entscheidet sich erst, wenn ich bleib oder gehe.
Das sind Schicksalsmomente, die man niemals vergisst
in Kassel-Wilhelmshöhe.