1. Feindlerthek
  2. Ungereimtes
  3. Artgerechter Anfang

Artgerechter Anfang

Artgerechter Anfang
(2017)

einleitendes Lied

Teilen

Ich lernte schon früh, im Leben zu teilen,
denn wer teilt, ist bekanntlich sozial.
Das fiel mir nicht schwer und ich fand bisweilen
viele Teilungsprozesse banal.

Ich teilte Essen und Getränke,
große Tische, lange Bänke,
mit Geschwistern meine Eltern,
süßen Kram aus Glasbehältern,
alte Sofas, neue Stühle,
eher seltener Gefühle,
Luft zum Atmen dafür immer,
Küche, Flur und Badezimmer,
meine Hoffnungen und Sorgen,
meine Laune früh am Morgen,
und, wie sollt es anders sein:
Ich teilte aus – und teilte ein.
Ich teilte ein in breit und schmal,
in ziemlich wichtig und egal,
in „stumm gehorchen“ und „selbst denken“,
Schiffefahren und -versenken,
heut und morgen, hier und dort,
sowie in Minigolf und Sport,
in renoviert und abgeranzt,
in streng geheim und gut verwanzt,
in völlig Fremde und Bekannte,
nette Leute und Verwandte,
auch in „Spenden“ und „Verkauf“,
ich teilte mit – und teilte auf:
Ich teilte auf in klug und dumm,
in schnurgerade, völlig krumm,
in superpünktlich und zu spät,
in Selbstbedienung und Diät,
auch in Befriedigung und Not,
in schön lebendig, besser tot,
in starke Männer, schwache Frauen,
in loyal und nicht zu trauen,
in verworfen und bewahrt,
reicht beschenkt und arm gespart,
ich sah Gewinne, ich sah Nieten,
Unterstützer, Parasiten.

Ich lernte schon früh, im Leben zu teilen,
denn wer teilt, kann auch besser sortier’n.
Manche teilen mit Worten, and’re lieber mit Beilen,
um den Überblick nicht zu verlier’n.
Zwar löst ein Schubladensystem
nicht jedes menschliche Problem,
doch in schwarz-weiß zeigt jedes Bild,
dass eine schlichte These gilt:
Willst Du den Überblick behalten,
musst Du teilen, trennen, spalten.
Aber niemals im Detail,
sondern möglichst nur durch zwei;
und deshalb kannst Dir Du bei Haaren
Spaltereien lieber sparen,
pack die Gelegenheit beim Schopf
und spalte gleich den ganzen Kopf!

Conférence

Ich wusste lange nicht, wo ich anfangen soll, wenn ich über Spaltung spreche. Es gibt so viele verschiedene Ansätze, die Welt zu teilen. Einig sind sich alle nur darin, dass die Welt geteilt ist: in arm und reich, in jung und alt, in deutsch und entspannt … Ich hätte über jeden Ansatz ein eigenes Programm schreiben können. Nur keinen Anfang. Die Lösung war dann, einfach dort anzufangen, wo auch die Spaltung beginnt – nämlich im Kopf. Denn das Bedürfnis, die Welt in Kategorien aufzuspalten, ist im menschlichen Gehirn tief verankert. Wir hätten als Spezies kaum den Planeten erobert, wenn wir nicht von Anfang an in der Lage gewesen wäre, einen Baum von einem Bären zu unterscheiden. Spaltung war immer überlebenswichtig. Deshalb ordnen wir auch heute noch alles ein, was uns vor die Nase läuft. Kein Kind ist davor sicher. Die freie Entfaltung eines Menschen endet spätestens mit dem ersten Kommentar der Verwandtschaft. Mein Patenkind kann ein Lied davon singen: „Ach, die Kleine läuft immer noch nicht? Dann ist die dafür sicher sprachlich begabt.“ Oder halt auch nicht. Ich frag mich dann immer: Was kümmert Dich das? Die Kleine ist doch ein aufgewecktes Kind, schaut sich mit offenem Blick in der Welt um und lernt schon alles, was sie interessiert. Und wenn es sie im Moment nicht interessiert, dann vielleicht morgen. Oder in zehn Jahren. Oder nie. Wer weiß das schon? Aber so ist das eben, wenn wir ständig einteilen. Auf dem Kinderspielplatz heißt es dann: „Ach, die Kleine spielt so schön mit den Kuchenförmchen. Die wird bestimmt mal Bäckermeisterin.“ Ja, und Dein Kleiner trampelt gerade die Ameisenstraße platt. Der wird bestimmt mal Massenmörder. Oder wie? Es wird doch auch nicht jedes nervige, altkluge Kind irgendwann Kabarettist. Immer diese Etiketten. Wir kennen uns doch gar nicht … Frag Dich lieber mal, warum Du jetzt bei der Finanzverwaltung eines Versicherungskonzerns arbeitest, obwohl früher niemand zu Dir gesagt hat: „Die Kleine sitzt den ganzen Tag drinnen und starrt gelangweilt gegen die Wand“. Nur als kleiner Denkanstoß für die nächste Mittagspause. Und dabei bitte nicht den Fehler machen zu glauben, Selbsterkenntnis und Selbstfindung seien ein und das selbe.

abschließendes Gedicht

In sich gehen

Ein Mensch hat vor sich zu besinnen
und emigriert sogleich nach innen,
denn jeder weiß: Die Welt versteht
man besser, wenn man in sich geht.
Im Innern aber merkt er schnell:
Hier ist es weder schön noch hell.
So tappst er durch die Dunkelheit
und stößt auf gar nichts weit und breit
und würde allzu gern verschwinden,
doch war sein Plan, sich selbst zu finden.
Die Suche fällt ihm sichtlich schwer,
im Innern bleibt es nämlich leer.
Um aber nichts zu übersehen,
will er noch tiefer in sich gehen
und ruft nach seinem eig’nen Ich.
Und – siehe da – es meldet sich!
Denn kurz nachdem er danach rief,
wird dieses Ich sogleich aktiv.
Er kann’s zwar weder gut verstehen
noch ansatzweis’ im Dunkeln sehen,
doch fest steht, dass ihn das nicht stört –
er hat’s ja immerhin gehört!
Nur was genau, das weiß er nicht,
weshalb er gleich noch lauter spricht
und ruft: „Was möchtest Du mir sagen?“
Zurück ertönt ein „Agen, agen“.
Was immer das auch heißen soll,
der Mensch denkt weiterhin: „Wie toll,
dass ich mich selbst gefunden habe!“
Nur leider fehlt ihm jene Gabe,
die eher wirren Wörterfetzen
von diesem Ich zu übersetzen.
Zumindest hat es reagiert,
drum bleibt er weiter motiviert
zu rufen, denn er ist schon weit
gekommen – bis er freudig schreit:
„Ich krieg Dich bald schon in die Hände!“
Da hört er deutlich: „Ende, Ende!“
Das könnt’s gewesen sein. Jedoch:
Der Mensch sucht rufend heute noch.