Über Standpunkte

Über Standpunkte
(2015)

einleitendes Gedicht

Der Abonnent

Herr Großmann hält vom Käseblatt,
das täglich seine Heimatstadt
mit Druckerschwärze überflutet
nicht viel, doch wie man schon vermutet,
hat Großmann, wenig reflektiert,
die Zeitung dennoch abonniert.
Denn, was man von dem Blatt auch hält –
fast jeder in der Stadt bestellt
und liest es alle Tage, weil …
Der Grund heißt: Regionaler Teil.
Rein journalistisch ist zwar der
besonders stumpf und inhaltsleer,
doch wünschen Leser einen andern,
hilft nur noch eines: auszuwandern.
Für viele aber, die dort wohnen,
gehört das nicht zu den Optionen,
die im Moment in Frage kämen,
stattdessen kann man sich bequemen,
sich täglich drüber auszulassen,
es sei mal wieder nicht zu fassen,
wie überflüssig dieser Brei
im regionalen Blättchen sei.
So pflegt Herr Großmann jedes Mal
das selbe Morgenritual:
Die Zeitung kommt, er liest sie quer,
er ist enttäuscht, dann schüttelt er
den Kopf und sagt: „Was soll das hier?“
und wirft das Blatt ins Altpapier.
Auch wenn das Lesen sich nicht lohnt,
so ist er immerhin gewohnt,
sich morgens kurz mal aufzuregen
und dann die Zeitung wegzulegen.
Und weil er das seit Jahren kennt,
bleibt Großmann treuer Abonnent.

Conférence

Ich habe lange geglaubt, es gäbe nichts Bequemeres als zum Gewohnheitstier zu werden: jede Woche die selbe Zeitung lesen, jedes Jahr in der selben Kneipe seinen Geburtstag feiern, alle vier Jahre die selbe Partei wählen, vierzig Jahre im selben Haus wohnen … Das klingt so leicht. Vor allem klingt es nach Gewinnerseite, wenn man sich einfach fallen lassen kann. Das Problem ist nur: Wer sich nicht vom Fleck rührt, hat automatisch einen Standpunkt. Und wer einen Standpunkt hat, bekommt früher oder später das Gefühl, diesen Standpunkt gegen Fremdeinwirkungen verteidigen zu müssen. Das ist alles andere als bequem. Das geht den meisten Menschen erst an die Nieren und dann tierisch auf den Sack. Bequem wird es nämlich erst, wenn man auf einen Standpunkt vollständig verzichtet.
Das habe ich neulich wieder erlebt. Nach einem Auftritt in Frankfurt. Da drückte mir eine adrette junge Dame ihre Visitenkarte in die Hand und meinte, ich hätte auf der Bühne so schön über Nachhaltigkeit gesprochen – das würde super zu dem Event passen, das sie gerade für einen ihrer Kunden planen würde. Und ich schau auf die Visitenkarte und denk mir: Mensch, das ist ja das Logo des Großkonzerns „Shell“! Und sag dann zu der Frau: „Ich wusste gar nicht, dass solche Ölkonzerne jetzt auch nachhaltig denken.“ Und sie so: „Nee, das machen die auch nicht. Ich hab nur grad meine Karte von dem Solarenergie-Produzenten nicht mit. Die Kontaktdaten sind aber die selben.“ Und als ich sie irritiert ansehe, fügt sie hinzu: „Wenn Sie Shell nicht mögen, hätte ich hier noch ersatzweise eine Karte von Du darfst oder Langnese.“
Aus dem Auftritt bei dem Solarenergie-Produzenten ist nichts geworden. Dafür habe ich der PR-Agentin ein Gedicht gewidmet.

abschließendes Gedicht

An eine PR-Agentin

Du fleischgeword’ne Männerphantasie
spielst leidenschaftlich vieles, was verlangt
und auch verlangend ist, hast aber nie
um Würde oder Ehre je gebangt.

Fast alles ist mit dir verhandelbar –
wie weit du gehst, bestimmt allein der Preis.
Für deine Kunden bist Du wandelbar.
Die Masken sieht nur der, der um sie weiß.

Zudem verstehst du Leere auszufüllen,
obgleich das bloß mit heißer Luft geschieht.
Du bist die Meisterin der schicken Hüllen,
erschaffst die Haut, die Blicke auf sich zieht.

Was außen abschreckt, kannst du übermalen,
sodass sich seine Wirkung vollends wendet:
Die Menschen meinen dann, es würde strahlen,
doch werden eigentlich davon geblendet.

Du selber gibst dich immer sehr diskret,
und kannst mit glatten Hüllen, die dich kleiden,
und im Gewand der Seriosität
die Blicke in dein Inneres vermeiden.

Machst du für Kunden deine Beine breit
und fallen deine Hüllen schließlich doch,
entblößt du deine Oberflächlichkeit
und in Erinnerung bleibt nur ein Loch.