Das V-Wort

Das V-Wort
(2019)

einleitendes Gedicht

Deutscher Freiheitsbegriff

Ihr dürft mich online überwachen,
mich arm und dadurch kränker machen,
an Eure eig’nen Lügen glauben,
mir schließlich meine Würde rauben,
doch lasst mir bitte dreierlei,
dann fühl ich mich auch künftig frei:
Böller, Wurst und Raserei.

Conférence

Darf ich fragen, wer von Ihnen auf Silvesterböller verzichtet? … Wer isst keine Wurst? … Und ganz rebellisch: Wer wäre für ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen zu haben?
Wer von Ihnen hat denn schon mal von der wachsenden Waffenboykott-Bewegung in den USA gehört? … Falls nicht, das ist ein spannendes Phänomen: Die Bewegung setzt sich dafür ein, dass Menschen freiwillig auf den Besitz privater Schusswaffen verzichten. Auf Twitter finden Sie die Bewegung unter dem Hashtag „gun shame“, frei übersetzt „Waffenscham“. Dort schreiben die Anhänger, wie sehr sie sich dafür schämen, in der Vergangenheit mal geschossen zu haben. Die große Vision der Bewegung ist ein Amerika ohne Amokläufe. Ein Amerika, in dem sich Menschen freier fühlen, weil niemand mehr von privaten Schusswaffen bedroht wird.
Wenn Sie von dieser Bewegung noch nie gehört haben, liegt das vermutlich daran, dass es sie nicht gibt. Auch, wenn ich mir selbst schon oft gedacht habe: So etwas muss es doch eigentlich geben! Aber ganz ehrlich: Es wäre wahrscheinlich ganz schön frustrierend, Teil einer solchen Bewegung zu sein. Denn es gäbe ja mindestens genauso viele Amokläufe wie vorher. Was eben passiert, wenn ein paar Leute freiwillig ihren Lebensstil ändern: Seit Jahren wächst in Deutschland die Zahl der Veganer, aber die Menge an verbrauchtem Fleisch bleibt gleich. In Schweden twittern immer mehr Leute, dass sie aus Flugscham keinen Flieger mehr betreten, die Zahl der weltweiten Flüge war 2019 erneut auf einem Rekordhoch. Und dass hierzulande immer mehr Menschen aufs Fahrrad umsteigen, hat weniger Auswirkungen auf die Zahl der Autos als darauf, dass die Zahl der tödlich verunglückten Radfahrer steigt. Trotzdem ist es unabdingbar, dass sich diese Menschen immer lauter zu Wort melden – denn nur so sprechen wir endlich über Verbote. Es tut mir leid, aber ich fürchte, ich muss das V-Wort in den Mund nehmen: Natürlich brauchen wir Visionen. Und zwar, um mehr Menschen mehr Freiheit zu ermöglichen. Wir können gerne mit etwas einfachem anfangen: Zum Beispiel alle deutschen Innenstädte komplett zu Fußgängerzonen machen und begrünen. Stellen Sie sich einmal vor, wir ziehen das ab morgen durch. Was passiert dann? Wir begegnen uns wieder häufiger auf der Straße. Wir haben mehr Platz für schöne Dinge. Zum Picknicken. Für Kultur. Zum Festefeiern. Kinder können fröhlich zwischen Bäumen und Blumen toben. Wir sind insgesamt gesünder. Weil wir uns wieder mehr bewegen und sich die Luftqualität stetig verbessert. Wir setzen uns dafür ein, dass der öffentliche Personennahverkehr überall bis zum Stadtrand massiv ausgebaut wird, damit auch die Pendler vom Land an unserem Stadtleben teilhaben können.
Und falls Sie jetzt immer noch Schnappatmung bekommen, wenn sie an autofreie Innenstädte denken, habe ich keine Antwort, aber noch ein paar Fragen:
Sehnen Sie sich heute noch danach, im Restaurant vom Nebentisch zugequalmt zu werden? Vermissen Sie es, ohne Sicherheitsgurt Auto zu fahren? Fehlt Ihnen zum entspannten Einschlafen das Contergan? Bedauern Sie, dass Schüler nicht mehr mit dem Rohrstock gezüchtigt werden dürfen? Wünschen Sie sich in Deutschland die Todesstrafe zurück? Hätten Sie gern einen Sklaven, der sich um Ihren im Haushalt kümmert? Hier und heute verspreche ich Ihnen: Wenn wir morgen alle Autos aus den Innenstädten verbannen, werden wir in zehn Jahren nicht mehr verstehen, was sie dort jemals zu suchen hatten.