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Gymnasiale Gedanken

Gymnasiale Gedanken
(2017)

einleitendes Gedicht

Der Bildungsbürger

Ein Mensch, der etwas auf sich hält,
strebt nicht allein nach großem Geld,
geschweige denn nach Ehr und Ruhm.
Er wünscht sich bloß ein Stück vom Kuchen
(will’s gar nicht erst mit Brot versuchen)
und strebt ins Bildungsbürgertum.

Denn dieses ist „the place to be“!
Warum? Die Antwort gibt schon die
Zusammensetzung des Begriffs:
Die Bildung steht für „bin gescheit“,
das Bürgertum für Sicherheit,
kurzum: für Menschen feinsten Schliffs.

Doch wer das ernsthaft durchzieht, dem
begegnet bald schon ein Problem,
mit dem er nicht gerechnet hat:
Man fordert, dass er sich benehm,
er werde bitte nicht bequem …
Der Bildungsbürger hat’s bald satt!

Denn wenn er einmal ehrlich ist,
erkennt er schmerzlich: Er vermisst
jetzt vieles, was als „dumm“ verpönt.
Er hat ja immer wieder Lust
auf plattes Zeug. Ihm wird bewusst,
dass er sich niemals dran gewöhnt,

sich nur niveauvoll zu verhalten
und sämtliche Gewohnheitsfalten,
die Bürgern stets als unfein galten,
aus seinem Leben zu verbannen.
Er mag es zwischendurch vulgär,
bescheuert, dumpf und ordinär;
so kann er wunderbar entspannen!

Als Status scheint „Niveau“ unschlagbar,
doch ohne Pause schlicht nicht tragbar.
Der Bildungsbürger ist sich sicher:
Es braucht wohl einen kleinen Trick,
damit das Plumpe wieder schick
und Überholtes fortschrittlicher

erscheint. Jetzt fragt sich nur noch: wie?
Die Lösung nennt sich: Ironie!
Man muss sie nur korrekt betonen;
und wenn man einmal Blödsinn macht,
so wirkt’s durchdacht in Anbetracht
ironisch-kluger Reflexionen.

Denn selbst der Stumpfsinn, das Banale,
Strunzdoofe sowie Asoziale –
kurzum: der größte Müll erscheint
voll Klasse, Feingeist und Kultur,
behauptet irgendjemand nur,
das sei doch gar nicht ernst gemeint –

als würde jeder Boden doppelt,
wird Inhalt vom Niveau entkoppelt.
Die Ironie kann viel verdauen
und daher sogar Bildungsgeilen
die Legitimation erteilen,
sich Blöd- und Stumpfsinn anzuschauen.

Und wer geschickt ironisiert,
stellt gerne klar: Er amüsiert
sich über Dummheit reflektiert,
wann immer er sie konsumiert –
auch dann, wenn der Verstand „Genug!“ schreit.
Er sieht in einer Szenerie
voll Dummer stets die Garantie:
„Ich bin auf keinen Fall wie die!“
So wird aus feiner Ironie
Verachtung im Gewand der Klugheit.

Conférence

Ich bin so froh, dass ich die Ironie hab. Sonst müsste ich das „Dschungelcamp“ und den „Bachelor“ immer heimlich schauen. Dank Ironie bleibt es aber glaubwürdig, dass ich mir das nur zu Recherchezwecken reinziehe. Damit ich Ihnen davon erzählen kann und Sie das nicht sehen müssen. Da bin ich ganz selbstlos. Der einzige Vorteil daran, auf Ironie zu verzichten, wäre, dass mich meine Akademiker-Freunde nicht mehr zu Junggesellenabschieden einladen würden. Das geht nämlich definitiv nur mit Ironie. Wir betrinken uns dann auch immer ironisch. Und am Ende des Abends kotzen wir ironisch. Frei nach dem Motto:

Wer stets mit Ironie erbricht,
gehört noch nicht zur Unterschicht.

Unterschicht, das sind die andern. Das haben wir schon in der Schule gelernt. Und alle, die das damals nicht gelernt haben, waren nicht mit uns auf dem Gymnasium. Die Unterschicht kam bei uns nur vor, wenn wir uns mal als „Asis“ verkleidet haben. Das haben wir eine Woche vor den Abiturprüfungen gemacht. In der so genannten „Motto-Woche“. Jeden Tag ein anderes Verkleidungsmotto. Und ein Tag war „Asi“-Tag. Auf den haben wir uns am meisten gefreut: Endlich mal in Feinripp-Unterhemd und Jogginghose auf den Schulhof setzen, grillen und billiges Bier saufen. Natürlich ironisch. Eine geile Zeit war das.
Ich will damit nicht behaupten, das Gymnasium hätte uns zu besseren Menschen gemacht. Das war gar nicht nötig. Wir waren schon bessere Menschen – sonst wären wir ja keine Gymnasiasten geworden. Das Gleiche gilt für unsere Lehrer. Mich haben Lehrer unterrichtet, die offen damit gedroht haben, Schülerinnen auf die Realschule abzuschieben, wenn die Noten schlechter wurden. Lehrer, die zu Schülern sagten, sie gehörten nicht hierher. Lehrer, die abfällig äußerten: Wenn wir keine Lust hätten, fürs Abitur zu lernen, sollten wir doch bei der Müllabfuhr arbeiten.
Das Schlimmste daran war, dass wir es geglaubt haben. Für uns war es ganz normal, die Welt in oben und unten einzuteilen. In Gymnasien und Restschulen. In Menschen, die Müll produzieren und solche, die Müll wegbringen. Wir fanden es auch selbstverständlich, dass es für diese Menschen getrennte Schulen geben musste. Jedem das Seine. Nach dem gleichen Prinzip fördern deutsche Gymnasien Schüler mit schlechten Noten – nämlich gar nicht. Warum schwierige Schüler unterstützen, wenn sie auch einfach die Schulform wechseln können? Die stören doch nur die Leistungsstatistik. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Ein ganz natürlicher Prozess.
Durch diese Haltung manifestiert das Gymnasium seit Jahrzehnten gesellschaftliche Spaltungen. Manchmal denke ich mir: Schade, dass ich in meiner Schulzeit so selten mit Realschülern zu tun hatte. Es wäre sicher interessant gewesen, ab und zu mal deren Meinung zum Bildungssystem zu hören. Aber im nächsten Moment denke ich mir auch: Ich hätte es keinem Realschüler zumuten wollen, regelmäßig mit Gymnasiasten zu tun zu haben. Diese herablassenden Blicke wünscht man doch keinem. Wenn ich mir überlege, wie wir damals drauf waren …
Irgendwann reichte es uns nicht einmal mehr, uns von anderen Schulformen abzuheben. Wir wollten auch noch auf dem besten aller Gymnasien sein. Andere städtische Gymnasien hießen bei uns auf dem Schulhof bald nur noch „Hauptschulen, auf denen man Abitur machen kann“. Gesellschaftlicher Zusammenhalt war mit uns nicht zu machen. In dieser Hinsicht hatten wir jeden Tag Asi-Tag. Was nicht heißt, dass es woanders sozialer zugegangen wäre. Wir haben ja die Horrorgeschichten mitbekommen – aus Brennpunktschulen in Duisburg oder Berlin-Neukölln. Und wenn wir davon hörten, haben wir uns erst recht überlegen gefühlt. Im Grunde unseres Herzens waren wir arrogante Wichser … Dafür konnten wir nichts. Die meisten von uns konnten einen Scheiß dafür, zu den Gewinnern der Gesellschaft zu gehören. Ich für meinen Teil hätte mich schon richtig blöd anstellen müssen, um als Sohn von zwei Akademikern nicht auf einem Gymnasium zu landen. Aber selbst zugeben, dass mein Erfolg vor allem auf den Erfolg meiner Erzeuger zurückzuführen ist? Und damit die eigene Leistung abwerten?
Menschen schieben seit Jahrhunderten andere Identitätsmerkmale vor, um Statusunterschiede zu legitimieren. Merkmale, die angeblich nicht so plump klingen wie „Elternhaus“. Sowas wie Kasten, Stände, Rassen – und in unserem Fall eben „Leistung“. So sind wir durchs komplette Bildungssystem stolziert – mit der Überzeugung, alles unserer eigenen Leistung zu verdanken. Wir brauchten das. Denn je größer die sozialen Unterschiede in einer Gesellschaft, desto größer das Bedürfnis, die Unterschiede zu betonen. Erst recht, wenn wir oben stehen. Denn wo wir mehr gewinnen können, können wir im Zweifel auch mehr verlieren. Und wo wir mehr verlieren können, fühlen wir uns ständig gezwungen, unseren sozialen Status zu legitimieren.
Das galt damals und das gilt heute. Und wir, wir sind arrogante Wichser geblieben. Und diese arroganten Wichser glauben bis heute, dass es sinnvoll ist, Kinder in separate Gruppen aufzuteilen und diese Gruppen jahrelang voneinander fernzuhalten. Aber eines Tages treffen sich diese Menschen wieder – nachdem sie ihre Ausbildung oder ihr Studium beendet haben. Dann stößt der Manager auf den Fabrikarbeiter, die Architektin auf den Handwerker und der Oberarzt auf die Krankenschwester. Bei jedem dieser Aufeinandertreffen könnten die Beteiligten vom Wissen und von der Erfahrung des jeweils anderen profitieren. Auf Augenhöhe, versteht sich. Dazu müssten sie aber einander vertrauen. Was sie immer seltener tun. Warum sollten sie auch? Sie kennen sich doch gar nicht.