1. Feindlerthek
  2. Gedichte
  3. Rufe aus dem Publikum

Rufe aus dem Publikum

Rufe aus dem Publikum

(2006)

Kein Mensch erinnert sich daran,
wann das Theaterstück begann.
Es läuft seit Jahren ohne Pause
in einem riesengroßen Saal
vor einer ziemlich hohen Zahl
an Menschen, die sind hier zu Hause.

Die Bühne ist gefüllt mit Leuten,
die sich noch nie vor Trubel scheuten –
es sind die Macher von dem Stück.
Sie reden aufeinander ein,
denn einflussreich will jeder sein
zu seinem eig’nen Zweck und Glück.

Man schreit sich an, denn alle wollen
natürlich nur die besten Rollen.
Der Streit scheint bald zu eskalieren.
Wer Gelder hat, kommt sehr viel schneller
an einen Part als Hauptdarsteller
und hat fast gar nichts zu verlieren.

Die Techniker im Hintergrund
beachten stets, zu jeder Stund,
dass Licht die Bühne hell bestrahlt;
und sie bestimmen bei dem Stücke,
wen man ins rechte Lichte rücke.
(Am liebsten den, der sie bezahlt.)

Der Stuhl des Regisseurs ist leer,
doch dafür stehen umso mehr
erzürnte Männer drumherum.
Man hört sie lautstark diskutieren:
Wem steht es zu, Regie zu führen?
Sie sind zu keinem Zeitpunkt stumm.

Das Publikum ist erstens groß
und zweitens meistens teilnahmslos.
Ein Schnarchen tönt aus manchen Ecken.
Und Leute, die sich unterhalten,
sind häufiger als die Gestalten,
die int’ressiert die Hälse recken.

Den Zuschauern ist oft egal,
was man hier spielt in jenem Saal,
es sei denn, folgendes passiert:
Ein fieser Hauptdarsteller kürzt
die Brotration – dann ist bestürzt,
wer dies am eig’nen Leibe spürt.

Wer’s finanziell sich leisten kann,
sitzt nahe an der Bühne dran
und wirkt auf das Geschehen ein.
Zwar könnte auch der Rest was sagen,
doch diesen hört man selten klagen.
Meist schweigt er in den hint’ren Reih’n.

Nur ab und zu geschieht es dann,
dass irgendwo im Saal ein Mann
vom Platz aufspringt und wütend ruft:
„Die Ordnung fehlt seit langer Zeit!
Ich fordere mehr Menschlichkeit!“
Er wird als Spinner eingestuft.

„Ihr Deppen!“ ruft er. „Ihr Idioten!
Hier wird zum Teil ein Mist geboten,
der dumm ist! Das zerstört das Stück!“
Da schallt es von der Bühne aus:
„Sei still, du Narr! Du fliegst gleich raus!“
Der Mann sinkt auf den Stuhl zurück.

Und neben ihm auf einem Platz,
da sitzt ein Kind, das sagt den Satz:
„Was ist das für ein Chaos, Vater?“
Die Antwort wird sogleich gegeben –
der Mann sagt: „Das hier ist das Leben.
So geht es zu im Welttheater.“